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Gegensätze ziehen sich an – Ich habe EDS und Tourette!

Eine Frau mit langen, offenen, braunen Haaren und einem Pony sitzt in ihrem Garten. Ihr Kopf ist auf ihrer Hand gestützt. Sie trägt ein grünes T-Shirt und sitzt vor einem großen Busch mit roten Blüten.


von Cindy Vernickel.

Normalerweise treten das Ehlers-Danlos- und das Tourette-Syndrom recht selten zusammen auf. Doch Gegensätze ziehen sich an. Heute erzähle ich euch von meiner turbulenten Krankengeschichte, die schon vor meiner Geburt begann und bis heute anhält. 

Ich war noch nicht auf der Welt und sorgte schon für großes Aufsehen. 

Die Ärzte sagten ich würde ohne Beine auf die Welt kommen und rieten meiner Mutter zu einer Abtreibung. Sie entschied sich für mich! Zum Erstaunen aller Ärzte waren bei meiner Geburt alle Beinchen und Ärmchen vorhanden. Als ich noch kein Jahr alt war, kämpfte ich erneut um mein Leben. Eine Mittelohrentzündung führte zu schweren Fieberanfällen und diese gipfelten in einem Herzstillstand. Nach den Fieberanfällen kam die Epilepsie: der Anfang einer seltenen und schweren Erkrankung. 

Während andere Kinder spielten, saß ich beim Arzt.

Mit nur einem Jahr entwickelte ich starke X-Beine, für die ich vom Orthopäden Einlagen erhielt. Er begleitete mich auch über die nächsten Jahre weiter. Eine Kolitis im Alter von drei Jahren führte zu noch mehr Ärzten, Krankhäusern und unzähligen Untersuchungen. Damals schon musste ich viele Medikamente einnehmen. Doch trotz all der gesundheitlichen Schwierigkeiten war ich ein fröhliches kleines Mädchen.

Mit sechs Jahren tauchte plötzlich das Tourette-Syndrom auf. 

Nichts, aber wirklich gar nichts, war mehr so wie es zuvor war. Mein Körper machte Dinge mit mir, die ich nicht wollte und über die ich keine Kontrolle hatte. Ich quietschte vor mich hin – mal lauter, mal leiser – bis  dieser komische Druck, den ich in meinem Kopf spürte, verschwand. Meine Bauchmuskeln zuckten, ich hatte den Drang alles was in der Nähe stand von mir wegzutreten oder Sachen in die Hand zu nehmen. Ich verstand die Welt nicht mehr. Was passierte nur mit mir? Wieso machten sich so viele Menschen über mich lustig? Warum machte ich Geräusche, die sonst kein anderer von sich gab?

Das Tourette hasst Veränderungen.

Und als meine Familie umzog, lies das Tourette mich spüren, wie unzufrieden wir damit waren. Es veränderte mein Wesen. Ich war und bin seine Marionette, denn Monsieur Tourette, wie ich ihn nenne, ist auch ein Künstler im Nachmachen. Oft musste ich mir auf die Lippen beißen, denn wenn jemand pfiff, spürte ich den starken Drang dasselbe zu tun, ob ich es wollte oder nicht.

In der 2. Klasse wurden die Tics schlimmer.

Meine Beine hielten nie still. Der Bauch zuckte ununterbrochen. Dadurch musste ich ständig auf die Toilette. Wenn meine Klassenkameraden fragten, ob ich Schluckauf hätte, bejahte ich das sofort. Es sollte ja keiner denken, dass ich mich nicht unter Kontrolle hatte. Genau wie meine Freunde lernte ich schwimmen und Radfahren, nur mit dem Unterschied, dass mir alles schwerer fiel, weil mir die Kraft fehlte. 

Der Unfall, der mein Leben veränderte. 

Sport half mir immer dabei die Tics zu kontrollieren. Ich spielte Fußball, Volleyball, alles was mich ablenkte. Doch dann geschah ein Unfall. Beim Fußballspielen landete ich mit dem Bein auf einem Stein und meine Kniescheibe renkte aus. Ich wurde operiert und seither verschiebt sich meine Kniescheibe ständig. Irgendwann wusste ich wie ich sie bei Bedarf selbst einrenken konnte. Während meiner ganzen Jugend wurden meine Beschwerden immer intensiver und ich wurde viele weitere Male an meinem instabilen Knie operiert. 

„Bildest du dir das vielleicht alles bloß ein?“ 

2007 hatte ich immer mehr das Gefühl die Kontrolle über meinen eigenen Körper zu verlieren. Nicht nur Gelenke renkten aus, auch die Nerven wurden eingeklemmt und an manchen Tagen fühlte ich mich als würde der Körper nicht mehr richtig zusammenpassen. 

Ich wurde oft aus dem Schlaf gerissen, weil ich meinen Mund nicht mehr aufbekam. Die Ärzte hingegen, glaubten mir nicht. Und ich? Ich kam mir vor wie eine alte Oma, die ständig ihr Gebiss verliert. 

Glück im Unglück.

Durch einen einfachen Infekt lernte ich irgendwann meinen heutigen Hausarzt kennen, der mich gründlich untersucht und dabei auch verknotet hat. Ich wusste gar nicht, wie gelenkig ich war. Er untersuchte mich mit Hilfe des Beighton-Score, den ich sofort erfüllte und sagte, ich sei hypermobil. Damals konnte ich damit noch nicht viel anfangen. Ich wusste nicht, dass da noch mehr dahinter stecken konnte. 

Ein Leben mit Krücken.

2014 kam es zu weiteren schweren Verschlechterungen. Ein Bein wurde so instabil dass mein Hausarzt und ich eine Ganzbeinorthese beantragten und  von da an wurden Krücken meine täglichen Begleiter. Ein Jahr später konnte ich den Fuß nur noch hinter mir herschleifen. 

Zufallsdiagnose.

2017 wurde ich zum Neurologen im lokalen Krankenhaus überwiesen. Vor denen habe ich normalerweise immer am meisten Angst. Doch gerade dieser Neurologe erklärte mir, dass ich nicht das Hypermobilitätssyndrom hatte, sondern dass ich alle Kriterien für das hypermobile EDS erfülle!

Der Stress der EDS-Diagnose führt zu einem Tourette-Schub.

Nach drei Tagen Klinikaufenthalt konnte ich dem Drang meines Tourettes kaum noch standhalten. Ich musste raus und ich wollte mich auf keinen Fall blamieren. Als ich gerade zuhause ankam, bekam ich die Quittung für all den Stress der letzten Tage. Zum aller ersten Mal schmiss mich das Tourette zu Boden und ich musste laut schreien, damit der Druck weniger wurde. Mein ganzer Körper zappelte und die Augen verdrehten sich. 

Um besser mit allem zurecht zu kommen, suchte ich Selbsthilfegruppen auf.

Die Diagnose EDS gab mir keine Ruhe mehr. Ich wollte mich austauschen  und schnell fand ich heraus, dass vieles von dem ich dachte, dass es normal sei, gar nicht normal war. Auch auf der Touretteseite habe ich wundervolle Menschen kennen gelernt. Endlich war ich nicht mehr alleine und seelisch ging es mir immer besser. 

Heute habe ich gelernt mit dem Tourette und dem EDS umzugehen. 

Heilung gibt es für beides keine. Aber was ich mir stattdessen wünschen würde ist dass Ärzte ihre Patienten mehr ernst nehmen. Wir haben uns dieses Leben nicht ausgesucht und wir sehen unsere Ärzte mehr als die meisten unserer Freunde. Wir leben mit dem Wissen, dass vieles uns schaden kann und müssen alles mehrfach durchdenken, um unseren jetzigen Zustand nicht zu gefährden. Und trotz allem stehen wir lächelnd vor euch und kämpfen weiter. Das muss doch auch was wert sein?!

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