Eine Frau mit kurzen, braunen haaren und einer roten Blume im Haar sitzt in einer U-Bahn und schaut aus dem Fenster.


von Karina Sturm.

Es ist Dienstagmorgen, die Sonne scheint und ich treffe mich mit einem guten Freund auf einen kleinen Spaziergang. Ich liebe es entlang des Wassers planlos umherzuwandern. Das gibt mir vor allem mental viel Kraft. Allerdings bin ich nicht mehr sonderlich gut auf den Beinen unterwegs. Meine Gehgeschwindigkeit wird immer langsamer und die Strecken, die ich schaffe ohne starke Schmerzen auszulösen, werden kürzer. Als ich dann zum wiederholten Male am Arm meines Freundes ziehe und ihn frage, ob er nicht ein bisschen langsamer gehen könnte, schaut er mich an und sagt: ”Irgendwie ist mir immer noch nicht ganz klar, was du schaffst und was dir wegen deiner Krankheit schwer fällt. Du kannst U-Bahn fahren, aber nicht Bus und du konntest letztes Mal weiter laufen als heute. Warum?” Da ist mir klar geworden, dass vor allem meine gesunden Freunde Verständnisprobleme damit haben, dass das Ehlers-Danlos-Syndrom mich jeden Tag anders beeinflusst und das zwar manche Einschränkungen immer da sind, andere dafür aber manchmal verschwinden und dann umso heftiger zurück kommen. 

Vielleicht kann ich mit diesem Blogpost zu einem besseren Verständnis unserer Herausforderungen im Alltag beitragen. Denn was für gesunde Menschen eine einfache Alltagssituationen zu sein scheint, ist für manche Menschen mit chronischen Krankheiten eine große Herausforderung.

1. Zähne putzen

Eine Kleinigkeit, oder? Morgens aufstehen und sich die Zähne putzen? Nie hätte ich gedacht, dass eine so banale Aktivität so große Probleme bereiten kann. Heute morgen habe ich bewusst darauf geachtet, wie ich beim Zähneputzen aussehe und mein Gesicht war eine Mischung aus: ”Hört das bitte bald auf?” und ”Ich glaube ich gehe lieber wieder ins Bett.” Warum? Wie viele EDS-Betroffene ist meine Wirbelsäule besonders stark geschädigt und mittlerweile instabil von oben bis unten. Der Kiefer ist mit der oberen Halswirbelsäule verbunden und jede Bewegung, jedes Ruckeln, kommt sofort an meiner Halswirbelsäule an. Es hat lange gedauert bis ich eine Technik gefunden habe, die für mich funktioniert und nicht zu massiven Beschwerden nach dieser kleinen Alltagsaktivität führt, aber trotzdem liege ich nachdem der Wecker klingelt oft im Bett und frage mich, ob ich die Morgenroutine nicht lieber ausfallen lasse. Weil der Zahnarzt aber ein noch viel größeres Übel ist, entscheide ich mich trotzdem jedesmal für meine Zahnbürste.

2. Duschen

Einfach alles am Duschen ist schlecht für mich. Das Ruckeln am Kopf beim Einschäumen ist ein Albtraum für die Halswirbelsäuleninstabilität, weshalb ich meinen Kopf immer auf einer Seite festhalte, um dann die andere Seite mit langsamen, kreisförmigen Bewegungen einzuseifen. Und das Stehen (oder Sitzen) unter warmen Wasser ist einer der Haupttrigger für viele Menschen mit Ehlers-Danlos-Syndrom, die zusätzlich mit einer der vielen Formen der Dysautonomie leben. Das bedeutet, dass ich entweder kalt dusche (brrr) und dann den ganzen Tag friere, oder nach der warmen Dusche völlig außer Atem bin, mein Herz rast und ich mich gleichzeitig übergeben will. Sich kurz nach dem Aufstehen zu fühlen, als hätte man einen Marathon gelaufen, ist ein wenig motivierender Start in den Tag. 

3. Bus fahren

Warum kann ich nun U-Bahn fahren aber nicht so gut Bus? Generell gilt in meinem Fall: Das Transportmittel mit der wenigsten Erschütterung und Bewegung gewinnt. Meistens ist das die Bahn oder U-Bahn. Stadtbusse, die über Kopfsteinpflaster fahren, fühlen sich für mich an, als ob mir jemand konstant mit einem Hammer auf den Kopf schlagen würde. Selbst mit Halskrause schaffe ich kaum fünf Minuten. Ein lustiges Experiment mit meinem Mann, für das ich mich auf seinen Schoß gesetzt habe, in der Hoffnung das würde die Erschütterung dämpfen, hat mir nichts außer amüsierte Blicke der Mitfahrenden eingebracht. Daher laufe ich lieber als mich in einen Bus zu setzten. Oder ich muss mir ein Taxi (in den USA einen Uber) bestellen und komme damit offensichtlich in finanzielle Schwierigkeiten. Aber so ist das als chronisch Kranker: Entweder Geld ausgeben und komfortabel am Ziel ankommen, oder Laufen und damit für Tage erschöpft sein. 

4. Putzen

Neulich habe ich mit meinem Mann darüber gesprochen, was wir wohl machen würden, wenn wir plötzlich wohlhabend wären. Mein erster Gedanke: Ich würde mir eine Putzkraft einstellen, die zumindest einmal im Monat eine Grundreinigung vornimmt. Wenn ich das der 80-jährigen Nachbarin mit Arthrose erzähle, hält sie mich vermutlich für stinkfaul. Aber wer mich mal nach einer Stunde putzen gesehen hat, versteht warum diese Aktivität einer der schwierigsten für mich und meine Gelenke ist. Bücken und wieder aufrichten, mit Druck schrubben und über dem Kopf die Spinnweben entfernen sind für meinen ganzen Rücken eine Quälerei. Im Moment regnet es jeden Tag und  die weißen Fliesen in meiner Küche, die gleichzeitig unser Eingangsbereich ist, sind mittlerweile eher schwarz. Meine Reaktion darauf: Erstmal niemanden in die Wohnung einladen, bis ich es geschafft habe mir eine Woche zu suchen, in der ich keine Termine und keine anderen Aufgaben habe, damit ich mich ordentlich mit dem Putzen der Wohnung abschießen kann. 

5. Einkaufen

”Wie jetzt? Ihr habt kein Auto?” ist die Standardreaktion der meisten Amerikaner, wenn sie meinen Mann mit einem Armeerucksack, der mit 25 kg an Lebensmitteln gefüllt ist, herumlaufen sehen. Nein, wir haben kein Auto. Das können wir uns nicht leisten. Und generell geht es auch ohne. Aber für die wöchentlichen Einkäufe wäre so ein fahrbarer Untersatz manchmal doch ganz nett. Denn Einkaufen ist für uns eine Tagesaufgabe. Da wir auf einem der höchsten Berge der Stadt wohnen und im günstigsten Supermarkt einkaufen müssen, ist jeder Sonntag ausschließlich für den Wocheneinkauf reserviert. Bis zum Supermarkt brauchen wir mindestens 45 Minuten und Einkäufe tragen, fällt für mich aus. Mein Mann schleppt alle Lebensmittel zu uns in die Wohnung, während ich Brot oder Gemüse trage. 

6. Langes Laufen oder Stehen

Momentan kann ich ca. zehn Minuten ohne Pause laufen und zwischen zehn und 20 Minuten stehen ohne mich damit für die folgenden Tage zu überfordern. Danach wird es schon schwierig. Was mein Umfeld häufig nicht versteht ist: Ich kann auch weiter laufen oder länger stehen, wenn ich über meine Grenzen gehe, aber das hat immer Konsequenzen. Letzte Woche wurde ich für eine Dokumentation gefilmt. Der Filmemacher hat mich ziemlich viel laufen lassen und natürlich folge ich den Anweisungen. ”Nur noch einmal”, hat er gesagt. Aus einmal wurde zweimal wurde dreimal und als ich wieder zuhause ankam und auf meinem Sofa lag, konnte ich mich plötzlich nicht mehr bewegen. Nicht mal mehr aufstehen ging. So lag ich dann da bis zum nächsten Morgen, an dem ich mich unwesentlich besser fühlte. Die drei Tage danach fanden für mich liegend auf dem Sofa statt, zugepumpt mit Schmerzmitteln für Schmerzpeaks bis Stufe Acht. Wer eine chronische Krankheit hat, die zu chronischen Schmerzen führt, weiß wie sich eine Acht anfühlt. An solchen Tage sieht mich niemand, was zusätzlich zum Unverständnis beiträgt. ”Aber du kannst doch…”, heißt es dann oft. Ja, ich kann – ich sollte aber nicht. 

7. Essen

Als ich einer Ärztin bei einem Routinetermin erzählt habe, dass ich praktisch dauerhaft Lebensmittel sofort nach dem Essen ausscheide, hat sie mich gefragt: ”Aber essen mögen Sie schon noch?” Darauf kann ich nur sagen: Ich liebe es zu essen. Ich liebe es Spezialitäten aus allen Ländern zu probieren und in ein Restaurant zu gehen, ist eines meiner Highlights. Aber wirklich Spaß machen tut essen nicht, wenn man es nicht verträgt. Viele Menschen machen sich über so etwas keine Gedanken. Sie essen was ihnen schmeckt und wonach ihnen ist. Ich hingegen muss ständig überprüfen welche Inhaltsstoffe ein Lebensmittel hat und abwägen, ob ich mir heute eine kleine Sünde leisten kann. Ich kann auch nicht nach dem Essen unterwegs sein ohne eine Toilette in greifbarer Nähe zu haben. Das zu erklären, wenn mich eine Freundin fragt ob wir uns nicht in einem Park zum Picknick treffen wollen, ist oft unangenehm.

8. Konzentriert an einer Sache arbeiten

Normale Menschen haben eine Aufmerksamkeitsspanne von ein paar Minuten. Meine ähnelt einem Goldfisch. An diesem Blogpost habe ich Tage geschrieben, weil ich es nicht schaffe am Stück konzentriert auf meinen Bildschirm zu schauen und dazu zu tippen. Die fehlende Konzentration und der tägliche Brain Fog sind Symptome die mich wirklich nerven, weil ich mich dadurch ständig fühle, als würde ich nicht genug schaffen.

9. Arzttermine wahrnehmen und bezahlen

Meine amerikanische Hausärztin sagte beim letzten Termin zu mir: ”Karina, du musst unbedingt wieder zu einem Neurochirurg. Ein neues MRT brauchst du auch und neurologische Tests stehen an.” In meinem Kopf überschlug ich währenddessen die ganzen Kosten, die da auf mich zukommen würden und erklärte ihr, dass ich diese Termine auf die nächsten Monate verteilen muss, weil nicht mehr als ein Test pro Monat überhaupt geht. Für die meisten chronisch Kranken heißt krank sein nicht nur sich im Alltag einzuschränken, sondern gleichzeitig bringt die Krankheit diverse finanzielle Sorgen mit sich. Viele Medikamente oder Hilfsmittel gerade für seltene Erkrankungen werden nicht von der Kasse getragen und manche Experten, die wir aufsuchen, müssen privat bezahlt werden. Wenn man bedenkt, dass Krankheit auch heißt weniger leistungsfähig im Job zu sein, ist es nicht verwunderlich, dass chronisch Kranke irgendwann finanziell an ihre Grenzen stoßen. Für mich heißt Rentnerin zu sein – vor allem in den USA – dass ich oft überlegen muss, ob ich einen Arzttermin überhaupt wahrnehmen kann, weil ich nicht weiß ob ich die angeordneten Tests bezahlen kann. Meine Rente finanziert ausschließlich meine medizinischen Leistungen. Oft fühle ich mich deshalb schlecht, weil alle anderen Kosten an meinem Mann hängen bleiben. Dann realisiere ich wieder, dass ich mir die Krankheit nicht ausgesucht habe und dass ich glücklich sein kann, dass wir uns überhaupt das Leben hier leisten können. 

10. Freunde treffen

”Kannst du kurz vorbeikommen?”, fragen mich meine Freunde häufig. Kann ich? Meistens nicht. Ich muss Tage voraus planen, um zu wissen, wie viel Energie ich für ein solches Treffen brauche und um dann die Zeit davor und danach ausruhen zu können. Auf der anderen Seite ist etwas zu planen aber auch schwierig, weil sich mein Zustand von einer Minute auf die andere ändern kann. Ein guter Freund hat mich vor Kurzem zum ersten Mal an zwei Tagen hintereinander gesehen. Am ersten Tag sind wir viel gelaufen, was dazu geführt hat, dass ich danach massive Schmerzen hatte und am darauffolgenden Tag kaum die Augen offen halten konnte. Er meinte: ”Ich habe dich ja noch nie in dem Zustand gesehen. So siehst du also aus, nachdem wir uns treffen.” In dem Moment habe ich realisiert, dass mich meine Freunde wirklich nur sehen, wenn ich mich zusammenreiße und meine Einschränkungen nicht zeige bzw. man äußerlich ohnehin kaum etwas sieht. Nicht umsonst ist das Ehlers-Danlos-Syndrom eine unsichtbare Krankheit. Niemand sieht mich am Tag danach, wenn ich erschöpft von den zwei Stunden Unterhaltung auf meinem Sofa liege und mich frage, ob ich mich jemals wieder bewegen will. 

11. Haare schneiden

Meine Friseurtermine waren für mich früher ein kleines Wellnessprogramm. Ich genoß die drei Stunden, die ich alle paar Monate bei meinem Friseur war, um immer die grellsten Farben und den kürzesten Schnitt zu bekommen. An meinen pumuckelroten Haaren erkannte man mich aus der Ferne und eine Freundin sagte mal betrunken zu mir: ”Du definierst dich doch auch nur über deine Haare.” In einem Feldenkrais-Kurs während der MTA-Ausbildung weigerte ich mich, mich hinzulegen, damit meine Igelfrisur keinen schaden nehmen würde. (Ja, ich realisiere, dass das ein bisschen zu viel des Guten war.) Die Kopfmassage, die früher der Höhepunkt meiner Termine war, ist mittlerweile undenkbar. Heute bin ich froh, wenn meine Friseurin meinen Kopf nicht bewegt, nicht daran zieht und nach zehn Minuten fertig ist. 

12. Schlafen

Ich schlafe entweder zu viel oder zu wenig. An manchen Tagen schlafe ich um 20 Uhr vor dem Fernseher ein und wache bis zehn Uhr am nächsten Morgen nicht auf, weil ich so erschöpft bin. Oft weiß ich nicht mal wovon. An anderen Tagen habe ich solche Schmerzen im Rücken oder mein autonomes Nervensystem spielt verrückt und ich wache nachts ständig auf und kann morgens um fünf Uhr nicht mehr schlafen. Vor Kurzem hatte ich eine Woche, in der ich morgens jeden Tag um acht Uhr aufstehen musste. Eigentlich doch nicht früh, oder? Das Wochenende darauf habe ich dann mit schlafen verbracht, genauso wie die Woche danach. 

Es gibt noch viele andere für gesunde Menschen kleine Alltagsaktivitäten, die als chronisch Kranker zu einer Herausforderung werden und ich komme mir häufig dämlich vor, wenn ich mich darüber freue, dass ich es nach Wochen endlich geschafft habe meine Wohnung zu putzen. Aber bedenkt man, dass Menschen mit chronischen Krankheiten täglich gegen den eigenen Körper ankämpfen müssen, ist so ein Wohnungsputz doch das Äquivalent zum Bergsteigen auf den Mount Everest.  



4 Kommentare
  1. Silvia Fuchs sagte:

    Was du schreibst kann ich großteils sehr gut nachvollziehen obwohl ich kein EDS aber andere chronische Erkrankungen habe. Was mir sehr schwer fällt ist wenn die Konzentrationsstörungen wieder mal sehr groß sind Menschen zu sagen bitte ich kann jetzt einfach nicht weiter telefonieren weil es mich einfach zu sehr anstrengt. Wie soll das ein gesunder Mensch verstehen und man möchte ja auch nicht unhöflich sein. Es ist auch sehr schwer einfach um Hilfe zu bitten vor allem bei banalen Dingen wie z. B. Vorhänge anzunehmen und wieder aufzuhängen weil es einfach gefährlich ist auf eine Leiter zu steigen.

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    • karinabutterfly sagte:

      Huhu meine Liebe,
      danke dir für den Kommentar. Diese Situationen kenne ich auch ganz gut. Ich muss oft absagen, wenn mich jemand bittet mit mir zu telefonieren, weil es für mich wirklich schwer ist eine Stunde fokussiert an einem Gespräch teilzunehmen. Das erschöpft mich schnell und dann sehe ich desinteressiert aus, obwohl ich das gar nicht will. Insofern: Du bist nicht alleine. :)
      Gruß,
      Karina

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  2. Manuela Schneider sagte:

    Chronische Schmerzen sind mir bekannt und werden auch immer mehr.Es gibt die Alltagsprobleme und zwischen durch die guten Momente. Es ist interessant zu lesen, wie sich die Krankheit bei dir auswirkt und gleichzeitg erschreckend.Was für viele so normal ist und nicht geschätzt wird, ist für uns ein Hürdenlauf. Und vielleicht sind wir gerade deshalb stärker und estimieren die schönen kleinen Momente mehr.

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    • karinabutterfly sagte:

      Hallo meine Liebe,

      danke Dir für den Kommentar. Ich weiß nicht, ob ich mich selbst als stärker bezeichnen würde. Ich habe immer eher das Gefühl, dass ich eben tue, was ich muss, um mein Leben trotzdem zu lieben. Letztlich gibt es für mich nur den Weg nach vorne. Aber ich würde definitiv sagen, dass ich durch die Krankheit gelernt habe viel mehr die kleinen Dinge zu schätzen zu wissen und zu genießen.

      Drück Dich,

      Karina

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