Steile Klippen am Strand; eine einsame Person läuft entlang während sich eine große Welle an einer Klippe bricht. Im Vordergrund sieht man gelbe Blumen.

von Karina Sturm.

Es ist elf Uhr morgens und schon wieder sitze ich mit einem Coffee-to-Go-Becher, der das Einzige ist, was mich gerade wach hält, in der Praxis meines Gynäkologen.

Völlig ausgelaugt von dem früh morgendlichen Termin des Vortags und dem heutigen Termin, versuche ich mich noch im Wartezimmer auf die Vorbereitung der nächsten Woche zu konzentrieren, denn da steht wieder meine jährliche Reise nach Aachen an.

Ich finde mich in einem Berg voller Listen, Befunde, Fragen, Anträge, Steuerunterlagen und Briefe wieder.

All diese waren in nur drei Wochen zurück auf deutschem Boden entstanden und in der Dringlichkeit ähnlich hoch. In meinem Kalender versuche ich den Überblick über meine Termine zu behalten und notiere mir alle To-Do’s die für den jeweiligen Tag anstehen, doch immer wieder muss ich Termine von einem Tag auf den nächsten, von einer Woche auf die nächste, verschieben, weil ich es kaum bewältigen kann.

Freunde, oder andere Dinge die Spaß machen, finden gerade kaum Platz darin.

Denn wenn ein Termin erledigt ist muss ich mich entweder auf den nächsten vorbereiten oder vom letzten erholen. Die restliche Zeit und Energie die dann noch bleibt, nutze ich für Bewegung und Physiotherapie, denn mein Körper kann gar nicht gut mit Stress und aufrechtem Sitzen umgehen.

Vor kaum drei Wochen bin ich wieder in Deutschland eingetroffen und schon jetzt könnte ich eine Pause vom Kranksein gebrauchen.

Nach meinem dritten Aufenthalt in den USA, bei dem ich unter anderem meine Neurochirurgen aufsuchte, die Einzigen weltweit die mir in Bezug auf meine Halswirbelsäuleninstabilitäten und das Ehlers-Danlos-Syndrom helfen könnten, landete ich am 19. Juli mit einem bereits bis Oktober ausgebuchten Terminkalender in Deutschland.

Auch in den USA drehte sich der Großteil meiner Aktivität um die Krankheit, darum Lösungen zu finden, fitter zu werden, Lebensqualität zu gewinnen.

Ich wollte meiner Mutation auf den Grund gehen, kleinere Projekte mit den US-Ärzten an Land ziehen und gesundheitlich einen Schritt weiterkommen. Doch zurück in Deutschland mussten die jährlichen Kontrolltermine stattfinden, die ziemlich schnell sehr viele wurden, im Hinblick auf die 10 + chronischen Erkrankungen, die ich mein Eigen nennen darf.

Und plötzlich findet man sich in einer Welt wieder, in der „Reisen“ gleichgestellt ist mit „meine Ärzte sehen“.

In der Regel habe ich jährlich zwei größere Trips. Einer nach Aachen, zu dem ich dieses Jahr sogar fliegen werde, weil ich nicht mehr so lange im Zug sitzen kann, und ein weiterer Trip nach München. Diese Reisen packe ich natürlich in der Regel bis obenhin voll mit Terminen, damit sich der Aufwand und das investierte Geld lohnen. Was will man denn auch machen, wenn dort die Spezialisten sind, die man dringend braucht. Da heißt es Augen zu und durch.

Während ich also noch im Wartezimmer eines anderen Termins meine kommende Woche plane und strukturiere, schweife ich ab.

Mir wird auf einen Schlag klar, dass ich schon seit sechs Jahren mein Leben hauptsächlich nach Ärzten ausrichte und nicht nach meinen anderen Bedürfnissen. Vor Kurzem bin ich 30 Jahre alt geworden und ich realisiere, dass ich eigentlich den Großteil meiner 20er hauptsächlich mit Krankheit und viel mit Schmerz verbinde. Oder, zumindest habe ich nicht das gemacht was andere in ihren 20ern wohl machen würden.

Manchmal schaue ich zurück und frage mich, was ich alles verpasst habe in dieser Zeit.

Was hätte ich wohl gemacht, wäre ich eine gesunde Frau in ihren 20ern gewesen? Sicher hätte ich meine wertvolle Zeit nicht in Arztpraxen abgesessen, aber hätte ich wirklich etwas Sinnvolles gemacht und mein Leben zu schätzen gewusst, wie ich es jetzt tue? Ich glaube nicht. Ich denke diese Einsicht kam erst durch die Krankheit, wie ironisch das auch sein mag.

2010 musste ich auf einmal sehr viele verschiedene Funktionen übernehmen für die es in der normalen Welt eigentlich mehrere Fachmänner gäbe.

Aber ich sollte plötzlich meine eigene Ärztin, Heilpraktikerin, Physiotherapeutin, Psychologin, Anwältin, Sekretärin, Arzthelferin, Pflegekraft, Apothekerin und viele mehr sein. Und dann wunderte ich mich noch, wo meine Energie denn hinfließt und warum mir zum Teil nicht genug Kraft bleibt die schönen Dinge meines Lebens zu genießen.

Es macht gar keinen Sinn, Schuldzuweisungen auszusprechen, denn damit ist mir auch nicht geholfen.

Und um fair zu sein, muss man schon sehen, dass ich wohl ein sehr komplexer Fall bin der eher nicht die breite Masse vertritt. Deshalb habe ich mich mit diesen Umständen arrangiert und mich damit abgefunden, dass ich der einzige Mensch bin, dem ich in Bezug auf meine Erkrankung grenzenloses Vertrauen schenke und dass ich damit auch die einzige Person bin, die in der Verantwortung steht dieses Leben bestmöglich zu leben.

Doch trotzdem fange ich manchmal an zu träumen, von einer Welt, in der ich einen einzigen Arzt habe, der sich um all meine Belange kümmert.

In der er sich mit Kollegen austauscht, in der ich nicht zu anderen Fachärzten am anderen Ende der Welt muss, weil absolut klar ist, dass jeder Kranke in seinem Land die Hilfe bekommt, die er braucht. Eine Welt, in der ich nicht für jedes Stückchen Gerechtigkeit, für jedes Hilfsmittel, kämpfen muss. Und vor allem eine Welt, in der gesehen und geschätzt wird, was chronisch Kranke neben der Krankheit alles leisten.

Und aus all diesen Gründen habe ich einen Entschluss gefasst, dessen Durchführung auf wohl sehr wackligen Beinen steht.

Ich möchte das nächste Jahr nicht mehr in Wartezimmern und auf Reisen durch Deutschland verbringen! Ich möchte 2017 ganz einzig und allein mir widmen. Mir und meinem Leben, das es absolut wert ist, gelebt zu werden. Natürlich werde ich kein komplettes Jahr ganz ohne Ärzte durchstehen, aber ich kann es auf das Nötigste reduzieren. Mittlerweile sind viele meiner Erkrankungen erträglich gut eingestellt mit Medikamenten und ich hoffe jetzt einfach darauf, dass sich keine dieser bis nächstes Jahr verschlechtert, denn sonst wird nichts aus meinem Plan. Bleibt mein Zustand aber wie er jetzt ist, kann mir am Ende auch kein Arzt in Deutschland groß weiterhelfen und ich kann anstatt dessen versuchen selbst wieder etwas mehr vom Leben zu haben.

Ich werde mir eine Pause vom Kranksein gönnen und einfach versuchen wieder mehr Ich zu sein, was auch immer das heißen mag…

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